Von Massimiliano Casu und Vanesa Viloria
Von Ellen Blumenstein
Ellen Blumenstein
Das Fest, die Regel und die Zeit
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Ein Fest ist ein gestatteter, vielmehr ein gebotener Exzeß, ein feierlicher Durchbruch eines Verbotes. Nicht weil die Menschen infolge irgendeiner Vorschrift froh gestimmt sind, begehen sie die Ausschreitungen, sondern der Exzeß liegt im Wesen des Festes; die festliche Stimmung wird durch die Freigebung des sonst Verbotenen erzeugt.
Sigmund Freud
Die Riten beruhen auf einer Art von Wiederholbarkeit, die nicht als Entlastung, sondern als Bedeutung zu verstehen ist: Sie bringt die zyklische Zeit zur Erscheinung.
Jan Assmann
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Um die Welt als belastbare Wirklichkeit erfahren und darin als Gemeinschaft zusammen zu leben zu können, brauchen wir Strukturen, die einen Rahmen für unser Handeln etablieren. Regeln, die von allen Gruppenmitgliedern verinnerlicht und intuitiv angewendet beziehungsweise umgesetzt werden, entlasten uns von der Verantwortung, permanent Entscheidungen treffen zu müssen und ermöglichen es, erfahrungsgeleitet zu agieren. Die Kehrseite dieser Stabilität ist indessen, dass sie zum einen als bedeutungsleer erlebt wird und dass sie zum zweiten abweichende Bedürfnisse systematisch zugunsten der Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status Quo unterdrückt.
Vor diesem Hintergrund fungieren Feste in allen Kulturen als wichtiges Gegengewicht zum Alltag. Im Fest können symbolisch jene Bedürfnisse ausagiert werden, die anderswo keinen Platz finden oder das friedliche Zusammenleben gefährden würden, können Hierarchien ignoriert oder Intensitäten gelebt werden, die, auf Dauer gestellt, in den Zusammenbruch oder in die Eskalation führen würden. Das Fest setzt dem beschränkten Handlungsspielraum Einzelner und der gegenseitigen sozialen Kontrolle das Prinzip der Überschreitung entgegen.
Gerade die methodische Abweichung von der Normalität muss allerdings inszeniert werden. Denn die körperliche oder mentale Ausschweifung zeichnet sich nicht etwa durch die Suspendierung der Regel aus, im Gegenteil, sie macht sie sichtbar und stellt sie in den Mittelpunkt: Das Fest lebt von der freiwilligen Unterordnung aller Teilnehmer unter einen festgelegten Handlungsablauf, während die kollektiv eingeübten Gesetze des Alltags so weitgehend normalisiert sind, dass wir die unausgesprochenen Gebote, die wir täglich unbewusst befolgen, nicht mehr als die willkürlichen Setzungen wahrnehmen, die sie de facto sind.
Die wechselseitige Abhängigkeit von Alltag und Ausnahme ist für das Verständnis des Festes essentiell, denn wenn der Unterschied zwischen Fest und Alltag verschwindet – entweder indem der Alltag als permanentes Fest inszeniert wird oder indem das Fest seine Sonderstellung gegenüber dem Alltag verliert –, dann geht einer Gesellschaft die Fähigkeit verloren, sich zu verändern beziehungsweise zu entwickeln. Alltag und Fest, Stabilität und Verausgabung, Ordnung und Überschreitung, Selbstvergewisserung und Sich-Selbst-Fremd-Werden bedingen einander.
Feste bringen das Selbstverständnis einer Kultur auf allen gesellschaftlichen Ebenen zur Aufführung. Die einem Ritual zugehörigen Handlungen, Gesten und Äußerungen sind allen Mitgliedern vertraut und eröffnen Neuankömmlingen zugleich die Möglichkeit, sich in die Gemeinschaft zu integrieren.
So markieren Kalender- oder Vegetationsfeste überindividuelle Zyklen, wie etwa die Sonnenwende oder den Jahreszeitenwechsel und verschmelzen zum Teil mit religiösen Festen wie Weihnachten oder Ostern, die das jeweilige Ereignis historisch-mythologisch aufladen. Politische Feste adressieren das kollektive Gedächtnis, zum Beispiel anlässlich von Unabhängigkeits- oder Revolutionstagen, Geburtstagen von Staatsoberhäuptern und ähnlichem. Auch im privaten Leben werden alle wichtigen Lebensabschnitte durch entsprechende Feste wie Taufen, Beschneidungen, Abschlussfeiern, Hochzeiten oder Beerdigungen zelebriert, und selbst bis in die Verästelungen des Alltags hinein organisieren der Feierabend, der Feiertag oder das Festmahl den konkreten sozialen Zusammenhalt. Im täglichen Leben bieten sie der Routine entgegengesetzte Räume, die für Zeit mit Familie oder Freunden und für sportliche Aktivitäten genutzt, beziehungsweise kollektiv begangen werden: am Tag der Arbeit wird demonstriert, am Totensonntag der Verstorbenen gedacht, zum Erntedankfest werden Prozessionen abgehalten und Gaben gespendet. Selbst das festliche Essen intensiviert die Erfahrung der täglichen Mahlzeit durch die Verwendung eines besonderen Geschirrs, durch den größeren Aufwand bei der Zubereitung, das umfangreichere Menü, größerer Mengen an Alkohol, durch die Teilnahme zusätzlicher Gäste.
Doch nicht nur im Hinblick auf ihr jeweiliges Regelwerk bilden Alltag und Fest einander entgegengesetzte Prinzipien. Sie basieren außerdem auf grundlegend verschiedenen Zeitkonzepten: Im Alltag herrscht Chronos, der Gott der messbaren, linearen Zeit. Handlungen sind hier prinzipiell unumkehrbar und schaffen so Bindungen, Vertrauen und Verantwortung. Das Fest dagegen wechselt in die mythologische Zeit, in den Modus ewiger Wiederkehr. Es wird in Zyklen gefeiert, das heißt, es ist strukturell auf Wiederholung angewiesen. Egal ob ein Fest die Tagesroutine unterbricht, einmal pro Woche, jährlich oder jedes Zeitalter gefeiert wird; ein Fest verbindet das Leben des Einzelnen mit den Generationen vor und nach ihm.
Insofern ist das Fest nicht etwa ein Raum der Selbstvergessenheit, sondern der gesellschaftlichen Reflexion, in dem wir die Vorstellung davon, wer wir sind mit dem Wunsch, wer wir sein wollen miteinander abgleichen. Einerseits auf strenger Wiederholung gründend, beinhaltet es andererseits immer zugleich die Möglichkeit, aus dem Ritual verändert hervorzugehen. Deshalb kann – und muss – das Fest auch zerstörerische Aspekte umfassen. Feiernd erinnern wir uns daran, dass das, was wir tun, wie wir denken oder was wir für richtig halten theoretisch jederzeit auch ganz anders beantwortet werden könnte. Denn die Welt existiert nicht unabhängig von uns, sondern wir konstituieren sie durch die Narrative, mittels derer wir uns in sie einschreiben.
Wenn wir als Kulturinstitutionen also Feste feiern oder gar neue Feste gründen, besteht unsere Aufgabe nicht darin, auf ein bestimmtes Ziel hinzuarbeiten, sondern darin zu zeigen, dass das entscheidende Element für die Sinnstiftung die Zeremonie selbst ist und dass wir, indem wir ihr Form geben, bereits Bedeutung produzieren; das wie ist entscheidend, nicht das wofür. Erfinden wir also musikalische, kulinarische, tänzerische, erotische, kämpferische, karnevaleske oder saturnale Rituale und tragen wir dafür Sorge, dass sich uns so viele Menschen wie möglich anschließen! Danach lasst uns gemeinsam zur Arbeit zurückkehren; bis zum nächsten Fest.
Von Massimiliano Casu und Vanesa Viloria
Zehn Gedanken zu einer Kunst der Fiesta
I. Alles, was wir über die Fiesta wissen, kann in Zweifel gezogen werden
Diese scherzhafte epistemologische Hinterhältigkeit enthält dabei eine grundlegende Erörterung des Feierns: Wenn wir die Feste erleben und dabei eintauchen in ihre gesellschaftlichen Choreographien, wird unser diskursives Denken auf eine radikale Weise auf die Probe gestellt. Wenn wir uns aber am Rand des Geschehens halten, in der Rolle des partywatchers, setzen wir uns einer endlosen Reihe von Stereotypen, Mythen und Vereinfachungen aus, die aus unserer Position eines Unbeteiligten resultieren.
II. Wir können auch nicht genau definieren, was es ist
Der Begriff der Fiesta, semantisch ein offenes Wort, zugleich aber in seinem Sinngehalt ganz und gar aussagekräftig, wie er in aller Welt verwendet wird, in Wahrheit aber in keine Sprache übersetzt werden kann, kann in seinem substantivischen Gebrauch ein Raum-Zeit-Gefüge bezeichnen. Er kann aber auch verweisen auf eine Handlung, wenn von fiestar oder fiestear gesprochen wird. Er kann aber ebenso auf einen seelischen Zustand gemünzt sein, wenn man Ausdrücke verwendet wie estar de fiesta (in Festlaune sein) oder enfiestados (einen drauf machen).
III. Die Fiesta setzt destruktive wie auch kreative Energien um
Auf der anderen Seite sehen wir eine aggressive Merkantilisierung der Fiesta, ihrer Ästhetik und ihrer Werte, die Aneignung dieses volkstümlichen Erbes durch Eliten und die zunehmende Entleerung der rebellischen Substanz ihrer Ursprünge. In vielen Städten dieser Welt sehen wir zudem eine neue und heftige Repressionswelle gegen solche Aktivitäten von Seiten der Behörden sowie eine wachsende Einschränkung des Rechts auf eine festlich orientierte Versammlungsfreiheit.
Unser Umfeld reflektiert diesen radikalen Zwiespalt: das gemeinschaftliche Organisieren von neuen Nachbarschafts- und Stadtteilfesten, die immer stärker auf Partizipation und Inklusion gerichtet sind, das Festhalten an der Fiesta als künstlerische und kulturelle Aktivität von erstrangiger Bedeutung. Zugleich aber auch eine immer stärker akzentuierte Tendenz zum Schüren von Konflikten innerhalb der Fiesta und um sie herum.
IV. Kunst und Fiesta könnten das Gleiche sein, aber das ist nicht weiter wichtig
V. Heutzutage kann eine Fiesta politischer sein als ein Werk politischer Kunst
Andererseits fanden wir eine außerordentlich große vitale Kraft in der Fiesta, diesem umfassenden sozialen Raum, in dem sich komplexe Energien und Wechselwirkungen entfalten, die die Wirklichkeit in starker Weise beeinflussen können, indem sie neue Strukturen schaffen und die bestehenden verändern. Wir näherten uns dem Gedanken, den Lefebvre 1968 formulierte, wonach im Gegensatz zu einer immer spezialisierteren Kunst als Schmuckwerk des Bestehenden, ein wahrer sozialer Wandel solche Kulturpraktiken erfordert, die in der Lage sein müssen, das alltägliche Mangelgefühl und die Austerität auszusetzen und dafür eine Art Verschwendungslust und Ausschweifung bieten, die das Pflichtgefühl angreifen.
VI. Die Fiesta hilft uns dabei, uns unseren (Selbst)Beherrschungsmechanismen zu stellen
Wir können beobachten, dass die feine Membran, die eine Fiesta von einem Aufruhr oder Aufstand trennt[1] zu einem beträchtlichen Teil daher rührt, dass es einen kaum zu bremsenden Drang der Fiesta nach dem Auslöschen des Bestehenden gibt und dass dieser an erster Stelle auf die Symbole und Einrichtungen der Herrschaft abzielt.
Eine solche Konfrontation erhält einen langwährenden Kampf um die Hegemonie zwischen zwei sich feindlich gegenüberstehenden Archetypen aufrecht: der Rationalität der Staatsordnung und der einer radikal sozialen Vorstellungswelt. Einer dieser Archetypen wird repräsentiert durch den Homo Faber: das rationale Wesen, das am Aufbau der Institutionen arbeitet, die unsere Gesellschaft regulieren. Der andere Archetyp wäre der Homo Ludens, ein hedonistisches, irrationales und feierlustiges Wesen, das neue Möglichkeiten auslotet und dabei Kontroversen und Konflikte heraufbeschwört.
[1] Allein im Sommer 2017 gab es in der Region Madrid einen Toten, 30 Verletzte und etwa 40 Festgenommene bei Unruhen, die während den Feierlichkeiten in Majadahonda, San Augustín de Guadalix, Alcorcón, Aranjuez, San Sebastián de los Reyes, Pinto und Tres Cantos entstanden sind.
Quelle: http://www.abc.es/espana/madrid/abci-verano-conflictivo-fiestas-locales-madrid-fallecido-30-heridos-y-unos-40-detenidos-201709190249_noticia.html
VII. Eine Fiesta ist immer wie eine gelebte Fiktion
Diese Anekdote aus “Der Klang Der Familie” (Suhrkamp, 2014), einer Oral-History-Chronik zur Entstehungsgeschichte der Berliner Techno-Szene, ist nur eine der unzähligen Episoden, die die Epik eines globalen Feierns ausmacht, die aber auch gleichzeitig einen unschätzbaren Wert hat, um nachvollziehen zu können, welches Transformationspotential Parties, Fiesta etc. haben können.
Zum einen führt sie uns vor Augen, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen der Vorführung/ der Veranstaltung und der Fiesta gibt: das erste besucht oder sieht man, wohingegen man das zweite erlebt. Hier gibt es weder Drehbuch noch eine festgelegte Perspektive. Zum anderen veranschaulicht diese Geschichte, ähnlich wie die Vampir-Geschichten der Spook Factory, die der Luftfahrtschiffe des Fischbüros oder einfach alle Beispiele fiktiver Traditionen, die unseren Festlichkeiten und Feiern zugrunde liegen, dass eine Fiesta immer eine gelebte Fiktion ist. Ihre Kraft beruht auf ihrer Fähigkeit, die Distanz zwischen dem Möglichen und dem Jetzigen verkürzen zu können, oder wie Franco Berardi sagen würde zwischen der Möglichkeit und dem politischen Potential.
VIII. Die Vorstellungskraft verändert früher oder später das Bestehende
Dies wäre die radikale Vorstellungskraft, die, Cornelius Castoriadis folgend, in der Lage wäre, die Institutionen unserer Gesellschaft auf Dauer zu verändern.
IX. Die Fiesta sollte gesehen werden als lebendig gewordene performative Ausdrucksform
Auf Grund der Fähigkeit, unsere kollektive Vorstellungskraft zum Tanzen zu bringen und letztlich auch alle sozialen Strukturen, die darauf basieren, halten wir fest, dass eine Versammlung tanzender Leiber nicht politisch neutral sein kann und, Judith Butler folgend, dass diese Arten von Veranstaltungen Bedeutungsinhalte übermitteln können, die weit über das hinausgehen, was der eigentliche Anlass der Veranstaltung war. Diese Fiesta-Fiktionen, diese überschäumenden Vorstellungswelten, wirken als Verkörperungen von Äußerungen, und auf diese Weise finden sie ihren Ausdruck in neuen Diskursen.
Dies ist etwa der Fall bei einer tanzenden Menge und der außerordentlichen performativen und politischen Kraft eines kollektiven Körpers oder der interkorporalen Beziehung zwischen feiernden Individuen, die sich zusammenfinden aus ethischen oder ästhetischen Gründen, die sie vereinen.
Bei einer Fiesta sind diese Individuen miteinander verbunden und eingetaucht in eine Sphäre auf eine Weise, die sich von der üblichen politischen Teilnahme sehr unterscheidet, denn hier artikulieren sich ihre Identität, ihre Körper und ihre Gefühle.
X. Die Fiesta könnte das Laboratorium sein, das unsere Städte brauchen
Die Fiesta könnte heute eine außergewöhnliche Möglichkeit bieten, um uns zu überdenken und das System zu überdenken, in dem wir leben, um uns und es zu verändern auf der Grundlage einer inklusiveren Kultur, die gerechter, offener für Veränderungen und vor allem heiterer und unbeschwerter ist.
Von Massimiliano Casu und Vanesa Viloria
Von Ellen Blumenstein